Samstag, 29. März 2008

Die da unten...

Die Reichen machen gerade viel von sich reden. Gut so, denn wie Reichtum funktioniert, entzieht sich gern den Blicken, die Wahrheit rollt dann großhubräumig an uns vorbei und verschwindet hinter Türen ohne Namensschild. Nun lernen wir dazu, jeden Morgen, mit Blick in die Zeitungen, wie reich es macht, Steuern vorzuenthalten, bis zu vier Milliarden Euro weggesteckt, Trick Liechtenstein, das ist etwa das Doppelte des Bildungsetats der Hansestadt Hamburg, in deren Schulen es einen Reparaturstau von zehn Jahren gibt.
Die Vorstände der deutschen Unternehmen sind 17,5 Prozent reicher geworden im letzten Jahr, auf der Basis von Jahresgehältern, die im zweistelligen Millionenbereich liegen können – geräuschlos, ohne einen einzigen ICE zu bestreiken. Die Aktionäre von Siemens macht es gerade reicher, dass 6800 Leute ihren Job verlieren, über solche Dinge wird nun also heftig geredet, ein interessanter Gesprächsstoff – der leider den Blick von einem Thema ablenkt, das sowieso am liebsten übersehen wird. Von der Armut. Der sich verschärfenden Armut in diesem Land, der nicht einzudämmenden Armut in Europa, den Inseln der Hoffnungslosigkeit in der Welt.
In Europa leben 19 Millionen Kinder in Armut. In Italien, Großbritannien, Spanien, um nur drei unserer liebsten Ferienländer zu nennen, ist etwa ist jedes 4. Kind von Armut betroffen. Armut bedeutet, mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens auskommen zu müssen. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen unterstützt 73 Millionen hungernde Menschen in 78 Ländern, steigende Getreidepreise lassen die Zahl in diesen Tagen um Millionen steigen. »Die Hälfte aller Menschen lebt von zwei Dollar am Tag«, sagte der Ökonom Muhammad Yunus 2006 in Stockholm in seiner Dankesrede für die Verleihung des Friedensnobelpreises, die reichsten 50 Millionen dieser Erde reklamierten für sich ein Einkommen, das so hoch sei wie das der ärmsten drei Milliarden Menschen zusammen, sagte Yunus. Es gibt, so der Oxforder Ökonom Paul Collier, rund eine Milliarde Menschen, die keinerlei Aussichten haben auf eine Verbesserung ihrer Lage, die zum Wechsel des letzten Jahrhunderts schlechter war als 30 Jahre zuvor, sie sind abgehängt von den positiven Entwicklungen in China oder Indien, ihr Elend ausgeblendet von den Bildern des dort keimenden Wohlstands, ihre Lage so hoffnungslos wie die von Passagieren in einem Zug, der mit blockierter Bremse auf ein abschüssiges Gleis gerät. Armut, so der Soziologe Serge Paugam von der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, auch Direktor am Centre National de la Recherche Scientifique, Armut werde gerne unsichtbar gemacht als angeblich nur marginales Problem, weil ihre Anerkennung infrage stellt, woran wir so gern glauben: die Macht des Marktes, die positive Kraft von Wachstum, den Fortschritt an sich. Yunus, Collier und Paugam haben jetzt sehr bemerkenswerte Bücher über die Armut vorgelegt.
Yunus, eines von neun Kindern einer Familie in Bangladesch, und Collier, Metzgersohn aus Yorkshire und Serge Paugam, der als Gymnasiallehrer in Laval begann, sie sind jeder auf ihre Weise überzeugende Beispiele hochentwickelten Humankapitals, ein Reichtum für unsere Wissensgesellschaft. Sie durchleuchten das Problem der Armut in sehr verschiedenen Regionen der Welt und aus verschiedenen Blickwinkeln, mit Unterschieden in Temperament, Methoden und Schlussfolgerungen. Paugam steckt erst auf 100 Seiten sein Feld ab, die Historie der Armut in Europa, er zeigt seine Instrumente, eine Typologie der Armut. Paugum unterscheidet Armut, die als Lebensstil in einer Gesellschaft integriert ist, von einer Armut, die marginalisiert wird. Er fragt, unter welchen Bedingungen Erfahrungen von Armut als disqualifizierend, demütigend durchschlagen. Armut ist, so betrachtet, kein Fakt, sondern ein Prozess von Zuschreibung, von angenommener Abwertung, aufgefangenen Nöten. Merkwürdig, dass am ärmsten Punkt Europas, auf Madeira, die Armut weniger empfunden wird. Wie kommt es, dass Arbeitslose in Dänemark zu über 40 Prozent allein leben, in Italien aber nur zu 1,4 Prozent, welche Folgen hat das, darüber räsoniert Paugam.
Collier führt seine Forschung als Abenteuer aus, wirft sich in das Gestrüpp von Widrigkeiten, die vor allem in Afrika eine Reihe von Staaten im Elend festhalten. Wie ein Zauberkünstler jongliert er Fakten und Zahlen und knallt die Ergebnisse seiner unerwarteten Fragestellungen aufs Blatt. Das Verhältnis von Armut zu Bürgerkrieg? Fatal. Geht das Pro-Kopf-Einkommen um die Hälfte zurück, steigt das Risiko eines Bürgerkriegs auf das Doppelte. Kosten? 64 Milliarden Dollar pro Krieg. Collier kommt, nicht ohne bissiges Vergnügen, zum Vorschlag, der Behebung von Armut diene unter anderem ein befriedender Militäreinsatz. Ohne Gewähr! Collier verweist auf enge Spielräume, Komplexität – und:Trotzdem müssen wir handeln! Sein Buch hat den Charme eines Films der schwarzen Serie und bekommt nun in Toronto den Lionel-Gelber-Preis als bestes Sachbuch des Jahres.
Muhammad Yunus ist der Visionär unter den Experten, ein Martin Luther King der Armutsforschung. Er habe einen Traum, verkündet Yunus, einen Traum von einer besseren Welt. Eine »unvollständige und fehlerhafte Vorstellung von der Gesellschaft und dem menschlichen Dasein«, sagt Yunus, habe uns in die Irre geführt – die Idee, dass die Menschen eindimensionale Wesen seien, nur durch Geld motiviert werden könnten und nur aus finanziellem Verdienst Befriedigung schöpften. Er glaubt an ein Wesen, unverbildet von der Gehirnwäsche des Konsumismus, das sich am wohlsten fühle, wenn es sich als sozial entfalten könnte. Homo Yunusiensis! Yunus trennte die Profitabschöpfung vom Unternehmen ab und verlagert sie zurück, als Reinvestition in den guten Zweck, dem dieses Sozialunternehmen dient – der Vergabe von noch mehr Mikrokrediten für die Armen. Dafür bekam er den Nobelpreis.

Die Schaltstelle für die Bekämpfung von Armut liegt im Kopf, in unserem
Das alles klingt sehr divergent, hat aber einen gemeinsamen Nenner. Die Schaltstelle für Wahrnehmung und Bekämpfung von Armut wird hier nicht primär im Kapitalfluss geortet, sondern im Kopf, in unserem. Als mentaler Knoten. Dazu also die Aufforderung, die Dinge quer zu durchforsten. Was die Lektüre dieser Bücher zu einem intellektuellen Abenteuer macht. Kein Gejammer über »die armen Armen« oder Abzocker, sondern ein Appell an den mündigen Bürger, der sich gefälligst informieren und seinen Einfluss auf die Politik geltend machen soll.
Serge Paugam zeigt im historischen Exkurs, wie Tocqueville, Marx und Georg Simmel Vorstellungen entwickelten, die Armut als inhärenten Bestandteil des Wirtschaftssystems erkannten. Das gilt bis heute, wenn Niedriglöhne in Dritte-Welt-Ländern Bedingung für die Auslagerung von Produktion sind, was hierzulande zu Lohndruck oder Freistellung führt. Paugam zeigt die Muster von Leugnung und Verdrängung durch Schuldzuweisungen an die Abgehängten, die denen als moralische Entlastung dienen, die noch am Wohlstand teilhaben dürfen. Armut diskreditiert das Staatswesen, als versagendes, und verwandelt eine Person in einem schmerzlichen Prozess neuer Selbstwahrnehmung. Ab wann, fragt Paugam, bekennt sich ein Mensch als arm? Und wieso ist nicht jeder, der arm ist, auch arm dran?

Armut kann auch ohne Leid erlebt werden, im Kreis der Familie
Je nach Milieu kann das eingeschränkte Leben als selbstverständlich erlebt werden, wie im Süden Europas, wo Arme oft in wirtschaftlich sehr schwachen Zonen leben, ohne Zukunft, aber oft solidarisch aufgefangen sind in Familie, Freundschaften oder der Erfahrung einer trotzdem sinnhaften Existenz. Sie werden vielleicht von staatlichen Hilfen nicht so individuell aufgefangen wie in Deutschland, aber erfahren auch nicht die Demütigung des behördlichen Blicks ins Private. Armut, so Paugam, erscheine auch deshalb oft als schwer zu mildern, weil Maßnahmen auf einer Wahrnehmung beruhten, welche ausblendeten, wie sich etwa für Arme Benachteiligungen verdichten – ungenügende Bildung, zerrissene Sozialnetze, fragile Gesundheit, mentale Not. So muss ein eindimensionales Angeboten wie Geld oder ein Job scheitern.

Die Armut also gibt es nicht, es handelt sich um heterogene Phänomene. Armut, schrieb schon Amartya Sen, auch Nobelpreisträger der Ökonomie, wirke je nach sozialer Rolle oder Geschlecht verschieden. Es ist etwas anderes, ob man arm an Einkommen ist oder an Verwirklichungschancen. Eine Frau mag in einer reichen Familie leben, aber kein Recht haben, das Geld in ihrem Sinne zu verwenden. Man kann in einem Land mit boomender Wirtschaft leben, in Indien etwa, aber ohne Chancen sein, weil sich der eigene Lebensbereich in einer mageren landwirtschaftlichen Zone abspielt, die vom Boom nie erreicht wird. Paul Collier isoliert auf der Ebene von Nationen äußere Bedingungen, die zur Armut verdammen. Kein Zugang zum Meer. Hohes Einkommen durch Rohstoffe wirkt destabilisierend. Die positiven Effekte von Bildung minimieren sich bei niedriger Bevölkerungszahl. Seine Vorschläge, als steile G8-Vorlage gedacht, mildert er durch jene bissige Komik, die Lektüre angelsächsischer Wissensbücher so erfreulich macht. Befriedende Truppenpräsenz bei gleichzeitiger massiver Anschubfinanzierung von Reformen, ähnlich wie damals beim Marshallplan! Eine Charta entwickeln für Transparenz der Ressourcenverwendung. Kurzzeitige Handelsprotektion der elendesten Länder Afrikas gegenüber der asiatischen Konkurrenz. Das sei eine Verletzung nationaler Souveränität? So what? Von abgehängten Staaten gehe eine globale Destabilisierung aus. Und das Streben nach Glück, so Yunus, das Thomas Jefferson in die Verfassung der Vereinigten Staaten schrieb, sei schließlich universal zu denken.

Lebensstile müssen sich global angleichen. Was das wohl bedeutet!
Wie also geht es voran, mit solch radikalen Denkern im Rücken? Nun, es gibt gute und schlechte Nachrichten. »In Bangladesch sind bereits 80 Prozent der in Armut lebenden Menschen in den Genuss eines Mikrokredits gekommen«, sagte Yunus vor zwei Jahren in Stockholm. Es gibt eine flächendeckende Joghurtverteilung an Kinder, Bettler-Darlehen, Versicherungen gegen das Ableben der Familienkuh, Studentenförderung – das hat nichts daran geändert, dass Bangladesch auf der Liste der ärmsten Staaten noch immer weit oben steht. Es wäre hilfreich, hätte Yunus mitbedacht, was als Kritik gegen seine Mikrokredite vorgebracht wurde – etwa dass viele der Mikrokredite keine nachhaltige Entwicklung in Gang setzen, sondern nur handelsübliche Kredite ablösen und retour. Collier hat gute Beispiele für die desaströsen Effekte mangelnder militärischer Präsenz, Ruanda zum Beispiel. Aber es gibt nicht viele überzeugende Gegenbeispiele. Und wieso, Monsieur Paugam, rührt den mündigen Citoyen das Elend der Welt so wenig, solange es ihm gut geht?

Es wird gern gesagt, die Armut der Dritten Welt sei zu weit weg, um hier als Schreckensbild wirksam zu werden. Das klingt nach fauler Ausrede. Die armseligen Gehälter in Drittweltländern stehen hiesigen Konzernleitern klar vor Augen. Da ist Goa ganz nah. Oder Südamerika, von wo Getreide importiert wird, um Schlachtvieh in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen zu füttern, das eine Bevölkerung verputzt, in der jeder Fünfte übergewichtig ist, während im Heimatland des Getreides Menschen hungern.
So gesehen gibt es kein unschuldiges Steak. Wer billige T-Shirts kauft, enthält anderen Lohn vor. So viel Einsicht muss schon sein im humanismusgeschulten Europa. Man muss ja nicht einen Lebensstil pflegen, der leicht zu halbieren wäre, ohne viel an Komfort zu verlieren. Es gehe darum, einen global nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln, sagt Yunus. »Leben auf Kosten anderer als Lebensverlust wahrzunehmen: Diese Lektion steht noch aus«, so formulierte es neulich der Salzburger Theologe Gregor Maria Hoff in einem Interview. Radikal! Yunus spricht davon, dass sich Lebensstile global angleichen müssten. Was das bedeutet, darüber hat hier vermutlich kaum jemand angefangen nachzudenken.

»Vergessen wir nicht, dass wir nur ein Leben haben«, schreibt Yunus, er meint damit Menschenleben, die unter Armut verkrüppeln. Aber der Satz ließe sich natürlich auch auf uns beziehen, die wir nur dies eine Leben haben, um eine positive Spur zu hintelassen.

Paul Collier: Die unterste Milliarde
Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann; aus dem Engl. von Rita Seuß und Martin Richter, 2008


Serge Paugam: Die elementaren Formen der Armut
Aus dem Franz. von Andreas Pfeuffe, Pfeuffer; Hamburger Edition, Hamburg 2008


Muhammad Yunus: Die Armut besiegen
Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer; Hanser Verlag München 2008


DIE ZEIT - Ein Spezial zur Leipziger Buchmesse 2008; Artikel von Susanne Mayer

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