Moderner Fußball ist eine Sache für Menschen mit "einer Philosophie". Jeder hat heute eine, bevor er vor einen Ball tritt. Den Grundstein dazu legten 1972 Monty Python mit ihrem "Fußballspiel der Philosophen". Damals trat das deutsche Team, mit den Führungsspielern Kant, Hegel und Nietzsche, gegen die Griechen mit Superstar Sokrates an. Es ging um alles, dennoch erlebten Schiedsrichter Konfuzius und seine Linienrichter Thomas von Aquin und Augustinus, beide mit Heiligenschein, einen ruhigen Tag. Denn das Spiel war in jenen Pioniertagen der Fußballphilosophie noch etwas tempoarm. Nach Anpfiff standen die Akteure in Gedanken versunken auf dem Spielfeld und beachteten den Ball gar nicht. Erst in der 90. Minute kam Zug ins Spiel. Archimedes rief "Heureka!" und forderte die Mitspieler auf, den Ball zu benutzen, worauf Sokrates das Siegtor köpfte. Gegner einlullen, dann per Kopf zuschlagen: eine Taktik, die später vom Gebrauchsphilosophen Otto Rehhakles für den griechischen Europameisterschaftssieg 2004 kopiert wurde.
Damals, als die englische Komikergruppe ihren Sketch drehte (sie tat das im Stadion an der Grünwalder Straße in München, obwohl dann, zum Verdruss aller Sechzig-Fans, den Fernsehzuschauern als Schauplatz das Olympiastadion des FC Bayern vorgegaukelt wurde) - damals gab es im deutschen Fußball nur einen Philosophen. Er hieß Paul Breitner und las die Mao-Bibel. Mao ist lange tot und Breitner seit dieser Woche sechzig, und praktisch jeder im Fußball, vom Trainer bis zum Fan, hat heute eine "Philosophie" oder jedenfalls etwas, das er dafür hält. Jene Fans von Werder Bremen, die vor dem Derby gegen den Hamburger SV mit Hilfe von Chemie aus dem Gartenmarkt hässliche Verwünschungen des Nord-Rivalen in den Deich-Rasen am Weserstadion ätzten, haben zwar im Nebenfach Ethik noch einigen Nachholbedarf. Dafür kann Trainer Thomas Schaaf nun einen echten Philosophie-Star in der Abwehr einsetzen: Sokratis.
Der Mann ist nicht ganz neu in Bremen, aber der Name. Bisher spielte der Grieche unter dem sperrigsten Namen der Bundesliga, als Papastathopoulos. Solche Namen können nicht nur für Radioreporter zur Last werden, auch für die Namensträger selbst. Das weiß etwa der heutige Augsburger Jan-Ingwer Callsen-Bracker, seit ihn sein früherer Leverkusener Manager Reiner Calmund "Callsen-Gedönsheimer" taufte. Papastathopoulos spielt künftig, ganz offiziell von der Deutschen Fußball Liga genehmigt, mit dem Künstlernamen Sokratis. Wir stellen uns die Gespräche bei Klubabenden im Werder-Heim nun noch viel werthaltiger vor. Etwa wenn Sokratis dort auf seinen jungen Kollegen aus der zweiten Mannschaft trifft, auf Clemens Schoppenhauer.
Da kommt man von der geistigen Prominenz nur noch in Mönchengladbach mit. Dort wirken die beiden Klassiker Marx und Dante. Dennoch könnte den Borussen an diesem Spieltag etwas der letzte Genius im Spiel fehlen, für den der angeschlagene Reus sonst zuständig ist. Überhaupt geizt die Liga an diesem Wochenende mit individueller Brillanz. In Dortmund fehlt Götze (gesperrt), in München Robben (geheilt, aber geschont für die Champions League). Und beim Gladbacher Gegner Kaiserslautern fehlen praktisch alle, die mit der wichtigsten philosophischen Frage des Fußballs vertraut sind: Wo steht das Tor? Mit Lakic, Ilicevic, Hoffer und Moravec gab man zwei Drittel aller Treffer der letzten Saison ab. Es ist bisher der Unterschied zwischen Platz 7 und Platz 17. Die Gladbacher schafften das konträre Kunststück. Mit dem fast unveränderten Team, das im April Letzter war, wurden sie im August Erster.
Nun allerdings stehen die Bayern wieder dort, es ist der erste Spieltag seit dem Meistertitel 2010, in den sie als Tabellenführer gehen. Vor allem weil in München mit Torjägern nicht gegeizt wird. Dort trifft nun Mario Gomez auf Papiss Cissé. Beide zusammen kamen in der letzten Spielzeit auf fünfzig Treffer und in der aktuellen schon wieder auf acht. Nach zuletzt acht Niederlagen in München ziehen die Freiburger Hoffnung aus dem Sieg der zweiten Mannschaft gegen die des FC Bayern am Mittwoch. Bayern II wird übrigens trainiert von Andries Jonker. Nach der Entlassung van Gaals war er noch der Retter des Champions-League-Platzes. Nun darf er sich in der vierten Liga herumschlagen.
Ob man aus viertklassigen Siegen tatsächlich etwas ableiten kann für erstklassige Chancen in München? Trainer Marcus Sorg sagte vor der Abreise: "Vielleicht können wir etwas Irrationales abrufen und in der Liga aufhorchen lassen." Das klang sympathisch, war ein allerdings etwas bedenklicher Seitenwechsel von der Welt des Denkens in die des Glaubens. Wir warten auf den ersten, der sagt: "Wir brauchen eine klare Spieltheologie."
cei.
Text: F.A.Z., 10.09.2011, Nr. 211 / Seite 41
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen