Getauft in Frankfurt, in Auschwitz ermordet
Frankfurter Rundschau 14.1.2013 R6 Mittendrin
von Ursula Rüssmann
Shalom. Wer Lothar Habermehls adrettes Reihenendhaus in Offenbach betritt, dem fällt der Friedensgruß auf der kleinen Steintafel im Flur gleich ins Auge. "Ein Mitbringsel", sagt der 85jährige und lächelt: "Das ist aus dem Originalgestein der Klagemauer in Jerusalem gemacht."
So ein Täfelchen kann eigentlich jeder kaufen, der Jerusalem besucht, aber im Haus der Habermehls wirkt es besonders. Lothar Habermehls Mutter Martha nämlich, evangelische Christin mit jüdischen Wurzeln, wurde 1943 von den Nazis in Frankfurt verhaftet und wenig später in Auschwitz ermordet. Ihr Sohn Lothar war damals 16 Jahre, sein Bruder 14. Die Jungs waren nach den NS-Rassegestzen "Mischlinge ersten Grades" (ihr Vater war Nichtjude), deshalb wurden sie noch im Januar 1945 zu schwerer Zwangsarbeit ins Lager Derenburg geschickt. Shalom: In diesem Haus klingt das, als reichten Opfer die Hand zur Versöhnung.
Das Schicksal von Martha Habermehl, geborene Levy, von Beruf Schauspielerin, und ihrer Familie ist eines von vielen, das die Ausstellung "Getauft, ausgestoßen - und vergessen? Evangelische Christen jüdischer Herkunft 1933-1945" beschreibt. Sie wird am heutigen Montag im Institut für Stadtgeschichte eröffnet, und Lothar Habermehl wird dabei sein. Das Thema ist bisher kaum erforscht, Habermehl gehört zu den wenigen überlebenden Zeitzeugen. Und er kann, obwohl nicht mehr ganz gesund, zum Glück erzählen, was seine Familie mitgemacht hat. Sein Bruder kann es nicht. Er schwiegt bis zum heutigen Tag, seit 70 Jahren.
In der Laubestraße 6 in Sachsenhausen wohnt die Familie Habermehl ab Anfang der 1930er Jahre. Mutter Marth arbeitet zunächst beim Radio Frankfurt, bekommt aber als Jüdin bald ein Berufsverbot. Weil ihre Ehe als Mischehe gilt, muss sie wenigsten keinen Judenstern tragen. In Sicherheit ist sie trotzdem nicht. "Frankfurt wollte judenfrei sein", sagt Lothar Habermehl heute bitter, "hier wurden auch Mischehen angegangen."
Im Februar 1943, da liegt die Taufe von Martha Habermehl in der Lukasgemeinde (der heutigen Maria-Magdalena-Gemeinde) schon fünf Jahre zurück, wird die Frau zur Gestapo in der Lindenstraße geladen. "Sie hat sich nichts dabei gedacht", so ihr Sohn, "sie hat noch überlegt, was sie mittags kochen soll". Und Kuchen habe sie gebacken, für die Konfirmationsfeier des Bruders drei Tage später. "Davon hat sie nichts mehr essen können", sagt Lothar Habermehl, und der Blick wird feucht.
Die Mutter kehrt nie wieder zurück. Sie wird ins Gefängnis in der Hammelsgasse verlegt, von dort schreibt sie noch Briefe, mit Anweisungen wie "Ihr müsst auch mal die Fenster putzen". Mitte Juni wird sie abtransportiert. Monate später kommt die Nachricht, sie sei Ende Juli in Auschwitz "verstorben".
Der alte Herr in Offenbach findet nur schwer Worte, um zu beschreiben, was das damals für die Familie bedeutet hat. Ein "großer Schock" sei es gewesen, "aber es war ja Krieg. So viele Leute sind damals nicht wieder gekommen." Das Grauen ist überall und endet einfach nicht: Die Großmutter, die geholt wird, um nach dem Verschwinden der Mutter den Haushalt zu führen, wird bei einem Luftangriff im September 1943 getötet.
Welche Rolle hat die jüdische Religion für Marth Habermehl gespielt? Keine, sagt ihr Sohn: "Ihre Eltern waren nur von ihrer Herkunft her Juden, in die Synagoge sind sie nie gegangen". Eine sehr gläubige Christin sei seine Mutter gewesen, noch im Gefängnis habe sie gebetet, mit anderen Frauen dort. Und sie habe sich sehr engagiert in der Lukasgemeinde: "Wir hatten ein gutes Verhältnis zu Pfarrer Georgi." Der gehört der Bekennenden Kirche an, anders als der damalige Mitpfarrer Wolfgang Haas und der mit der NSDAP sympathisierende Kirchenvorstand. Die Lukasgemeinde ist gespalten, wie viele evangelische Gemeinden damals.
So unwichtig ihre jüdische Herkunft für Martha Habermehl ist, den Lebensweg ihrer Söhne durchkreuzt sie massiv, dafür sorgt der NS-Rassenwahn. Lothar kann gerade noch den Abschluss auf der Deutschherren-Mittelschule machen, sein jüngerer Bruder wird der Schule verwiesen. Lothars Bewerbung um eine Ausbildung bei der Metallgesellschaft wird abgewiesen, "weil ich Mischling ersten Grades sei. Das war eine Riesenenttäuschung." Im Arbeitslager Derenburg muss er "stoppeln", also im Gleisbau Steine schleppen. Aber er erinnert sich auch an "gewisse Freiheiten, die wir da hatten. Wir konnten ab und zu raus, ich hatte bald schon eine Freundin im Dorf."
Und nach dem Krieg? Ingenieursstudium, Einstieg in den väterlichen Schuhandel, Heirat, drei Kinder, Hauskauf in Offenbach. Ein ganz normales Leben also.Mit ein paar kleinen Besonderheiten allerdings. Da ist Lothar Habermehls Tante, die in Israel lebt. Die Schwester seiner Mutter konnte 1938 gerade noch ausreisen. Bis zu ihrem Tod hat er sie zweimal besucht, von dort hat das Shalom-Täfelchen mitgebracht.
Und noch etwas ist anders bei den Habermehls: Fürs Plätzchenbacken zu Weihnachten ist seit Jahrzehnten Vater Lothar zuständig. Angefangen hat er damit im Jahr 1943, "dem ersten Weihnachten, als unsere Mutter nicht mehr da war."
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