Montag, 12. März 2012

Eisenbahngleichnis

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus, wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
Und keiner weiß, wie weit.

Ein Nachbar schläft. Ein andrer klagt.
Der dritte redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.

Wir packen aus. Wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.
Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür hinein
und lächelt vor sich hin.

Auch er weiß nicht, wohin er will.
Er schweigt und geht hinaus.
Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still.
Die Toten steigen aus.

Ein Kind steigt aus. Die Mutter schreit.
Die Toten stehen stumm,
am Bahnsteig der Vergangenheit.
Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit.
Und niemand weiß, warum.

Die erste Klasse ist fast leer.
Ein dicker Mensch sitzt stolz,
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und fühlt das sehr.
Die Menschheit sitzt auf Holz.

Wir reisen alle im gleichen Zug
zur Gegenwart in Spe.
Wir sehen hinaus, wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug.
Und viele im falschen Coupé.

Erich Kästner
Frankfurter Anthologie
FAZ 2. Oktober 2010 Nr 229

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