Freitag, 28. Mai 2010

Etwas Speck ist gut - und schlecht

Leichtes Übergewicht kann durchaus schützen - sofern man bestimmte Krankheiten hat. So weit, so gut. Warum die Ärzte dennoch meistens zum Abnehmen raten, zeigt sich in vielen Studien.
Dem allseits grassierenden Übergewicht möchte so mancher etwas Gutes abgewin­nen. Das liest man in Berichten über den Unsinn von Diäten oder über magersüch­tige Models zwischen den Zeilen. Bereits die Wortfolge „Dicke leben länger" er­zielt über 700 000 Treffer in einer Such­maschine. Tatsächlich bringt Überge­wicht auch Vorteile mit sich, sogar er­kennbare Überlebensvorteile. Allerdings muss man, will man von den überzähli­gen Pfunden profitieren, erst einmal krank sein, zum Teil sogar schwer krank. So lautet das Fazit einer Zusammenschau der verfügbaren Studien, welche die Sozi­almediziner Anita Rieder von der Univer­sität Wien und Thomas Ernst Dorner von der Universität Graz in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift" veröffent-licht haben (Bd. 135, S.413).
Dass Übergewicht eigentlich auf lange Sicht krank macht, ist hinlänglich gezeigt worden. Experten halten sich dabei an den Body-Mass-Index (BDI) als Körper­gewicht dividiert durch die Körpergröße zum Quadrat. Die Spanne von 22,5 bis 25
Kilogramm pro Quadratmeter gilt ihnen als ein vergleichsweise zuverlässiges Maß für Normgewichtigkeit. Dass nun mitun­ter Menschen jenseits eines BDI von 25 länger leben als jene mit Normwerten, be­zeichnet man als Risikofaktor-Paradoxon oder Adipositas-Paradoxon. Für Men­schen ab einem Alter von 65 Jahren gilt eher ein Index von 27 bis 30 als optimal. Eine chronische Herzinsuffizienz wird von Übergewichtigen oft besser bewäl­tigt. Eine Studie mit 28 209 Personen hat gezeigt, dass bei Fettsüchtigen die Sterb­lichkeit im Vergleich zu normalgewichti­gen Herzpatienten um bis zu einem Drit­tel geringer ist. Das Risiko, speziell an ei­ner Erkrankung des Herz-Kreislauf-Sys­tems zu versterben, ist sogar um 40 Pro­zent geringer. Ähnliches gilt für das Über­leben nach Erkrankungen der Herzkranz­gefäße. Hier zeigte sich, dass Unterge­wicht bei dieser Erkrankung das Risiko zu sterben verdoppelt.
Der Nutzen eines erhöhten BDI be­schränkt sich nicht auf das Herz-Kreis­lauf-Erkrankungen. Vorteile von Überge­wicht für das Überleben wurden auch für dialysepflichtige Patienten und bei so un­terschiedlichen Leiden wie rheumatoider Arthritis, HIV-Infektion und Aids, chro­nisch-obstruktiver Lungenerkrankung, Prostatakarzinom oder Leberzirrhose ge­zeigt. Biologisch bietet der Schutz vor den Folgen von Entzündungen, den das erhöhte Körpergewicht offenbar mit sich bringt, eine plausible Erklärung. Chroni­sche Entzündungen lassen nämlich die Muskelmasse schmelzen und tragen gera-
de bei älteren Personen zu einer mitunter lebensbedrohlichen Gebrechlichkeit bei. Als weiterer Grund für längeres Überle­ben kommen erhöhte Cholesterinwerte in Frage. Dadurch gelingt es dem Organis­mus eher, bakterielle Giftstoffe, so ge­nannte Endotoxine, leichter zu neutrali­sieren. Nicht zuletzt kann das Fettgewebe selbst toxische Stoffwechselprodukte un­schädlich machen, wie sie beispielsweise im Laufe von auszehrenden Krebserkran­kungen vermehrt gebildet werden.
Diese Zusammenhänge zeigen jedoch allenfalls, dass Übergewicht unter ganz bestimmten pathologischen Bedingun­gen nützt. Wie wenig man daraus einen allgemeinen Freibrief für Übergewicht ab­leiten kann, zeigt sich etwa an überge­wichtigen Dialysepatienten. Selbst bei den bekannten Vorteilen wird ihnen den­noch eine Gewichtsabnahme nahe ge­legt, denn ein zu hohes Gewicht schmä­lert die Aussichten auf eine erfolgreiche Nierentransplantation. Und sogar überge­wichtigen herzinsuffizienten Patienten wird weiterhin eine Gewichtsabnahme empfohlen, da das Übergewicht auch hier letztlich als langfristiges Risiko das Fort­schreiten der Erkrankung begünstigt. All diese Beobachtungen bieten deshalb kei­nerlei Grundlage für Beschwichtigungen. Abgesehen von den genannten, oft schwerwiegenden Erkrankungen profitie­ren übergewichtige Erwachsene und vor allem übergewichtige Kinder stets von ei­ner Gewichtsreduktion, so bereitwillig man auch etwas anderes hören möchte. MARTINA LENZEN-SCHULTE

FAZ Seite N2 Mittwoch 12. Mai 2010 Nr 109

Keine Kommentare: