Leichtes Übergewicht kann durchaus schützen - sofern man bestimmte Krankheiten hat. So weit, so gut. Warum die Ärzte dennoch meistens zum Abnehmen raten, zeigt sich in vielen Studien.
Dem allseits grassierenden Übergewicht möchte so mancher etwas Gutes abgewinnen. Das liest man in Berichten über den Unsinn von Diäten oder über magersüchtige Models zwischen den Zeilen. Bereits die Wortfolge „Dicke leben länger" erzielt über 700 000 Treffer in einer Suchmaschine. Tatsächlich bringt Übergewicht auch Vorteile mit sich, sogar erkennbare Überlebensvorteile. Allerdings muss man, will man von den überzähligen Pfunden profitieren, erst einmal krank sein, zum Teil sogar schwer krank. So lautet das Fazit einer Zusammenschau der verfügbaren Studien, welche die Sozialmediziner Anita Rieder von der Universität Wien und Thomas Ernst Dorner von der Universität Graz in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift" veröffent-licht haben (Bd. 135, S.413).
Dass Übergewicht eigentlich auf lange Sicht krank macht, ist hinlänglich gezeigt worden. Experten halten sich dabei an den Body-Mass-Index (BDI) als Körpergewicht dividiert durch die Körpergröße zum Quadrat. Die Spanne von 22,5 bis 25
Kilogramm pro Quadratmeter gilt ihnen als ein vergleichsweise zuverlässiges Maß für Normgewichtigkeit. Dass nun mitunter Menschen jenseits eines BDI von 25 länger leben als jene mit Normwerten, bezeichnet man als Risikofaktor-Paradoxon oder Adipositas-Paradoxon. Für Menschen ab einem Alter von 65 Jahren gilt eher ein Index von 27 bis 30 als optimal. Eine chronische Herzinsuffizienz wird von Übergewichtigen oft besser bewältigt. Eine Studie mit 28 209 Personen hat gezeigt, dass bei Fettsüchtigen die Sterblichkeit im Vergleich zu normalgewichtigen Herzpatienten um bis zu einem Drittel geringer ist. Das Risiko, speziell an einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems zu versterben, ist sogar um 40 Prozent geringer. Ähnliches gilt für das Überleben nach Erkrankungen der Herzkranzgefäße. Hier zeigte sich, dass Untergewicht bei dieser Erkrankung das Risiko zu sterben verdoppelt.
Der Nutzen eines erhöhten BDI beschränkt sich nicht auf das Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Vorteile von Übergewicht für das Überleben wurden auch für dialysepflichtige Patienten und bei so unterschiedlichen Leiden wie rheumatoider Arthritis, HIV-Infektion und Aids, chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung, Prostatakarzinom oder Leberzirrhose gezeigt. Biologisch bietet der Schutz vor den Folgen von Entzündungen, den das erhöhte Körpergewicht offenbar mit sich bringt, eine plausible Erklärung. Chronische Entzündungen lassen nämlich die Muskelmasse schmelzen und tragen gera-
de bei älteren Personen zu einer mitunter lebensbedrohlichen Gebrechlichkeit bei. Als weiterer Grund für längeres Überleben kommen erhöhte Cholesterinwerte in Frage. Dadurch gelingt es dem Organismus eher, bakterielle Giftstoffe, so genannte Endotoxine, leichter zu neutralisieren. Nicht zuletzt kann das Fettgewebe selbst toxische Stoffwechselprodukte unschädlich machen, wie sie beispielsweise im Laufe von auszehrenden Krebserkrankungen vermehrt gebildet werden.
Diese Zusammenhänge zeigen jedoch allenfalls, dass Übergewicht unter ganz bestimmten pathologischen Bedingungen nützt. Wie wenig man daraus einen allgemeinen Freibrief für Übergewicht ableiten kann, zeigt sich etwa an übergewichtigen Dialysepatienten. Selbst bei den bekannten Vorteilen wird ihnen dennoch eine Gewichtsabnahme nahe gelegt, denn ein zu hohes Gewicht schmälert die Aussichten auf eine erfolgreiche Nierentransplantation. Und sogar übergewichtigen herzinsuffizienten Patienten wird weiterhin eine Gewichtsabnahme empfohlen, da das Übergewicht auch hier letztlich als langfristiges Risiko das Fortschreiten der Erkrankung begünstigt. All diese Beobachtungen bieten deshalb keinerlei Grundlage für Beschwichtigungen. Abgesehen von den genannten, oft schwerwiegenden Erkrankungen profitieren übergewichtige Erwachsene und vor allem übergewichtige Kinder stets von einer Gewichtsreduktion, so bereitwillig man auch etwas anderes hören möchte. MARTINA LENZEN-SCHULTE
FAZ Seite N2 Mittwoch 12. Mai 2010 Nr 109
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