Geld allein rettet die Dritte Welt nicht. Sie muss die Chance erhalten, sich selbst zu helfen
Die sogenannte Dritte Welt habe es nie gegeben. Sie sei eine Erfindung linker Intellektueller und Entwicklungsökonomen. Das meinte zumindest P. T. Bauer, Professor an der London School of Economics. Er lehnte den Begriff "Dritte Welt" ab, da er die Vielfalt der postkolonialen afrikanischen und asiatischen Länder überdecke und diese in einen fiktiven Block zwänge und mit guten Ratschlägen und Entwicklungshilfe beglücke.
Westliche Entwicklungshilfe, so Bauers Überzeugung schon in den fünfziger Jahren, habe unendlich mehr Schaden als Nutzen gebracht. Sie habe unzählige Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zur Staats- und Planwirtschaft verleitet, statt den Markt und das private Unternehmertum zu entwickeln. Experten der Vereinten Nationen wie Raúl Prebish und Gunnar Myrdal hätten den Weg gewiesen, der da lautete: gelenkte Industrialisierung durch Abschottung, Preiskontrollen und staatliche Großprojekte - zu finanzieren über westliche Hilfsgelder oder eigene Geldschöpfung.
Die unvermeidliche Folge dieser Entwicklungsstrategie waren Fehlplanungen, Ressourcenverschwendung, Inflation und eine Zunahme der Bürokratie und Korruption. Zu diesem Elend kamen noch die periodischen Bürgerkriege in fast allen afrikanischen Staaten. Viele von ihnen sind daher heute ärmer als vor fünfzig Jahren - trotz Entwicklungshilfe. Die Länder südlich der Sahara, wo Entwicklungshilfe mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, haben besonders wenig erreicht und verharren auf elendem wirtschaftlichem Niveau.
Gibt es einen Teufelskreis der Armut, in dem sich diese Länder befinden? Bauer hat diese Vorstellung stets abgelehnt, da ja auch Europa aus eigener Kraft zu Wohlstand gekommen sei. Für die meisten Menschen, die in diesem Sommer am Zaun von Heiligendamm demonstriert haben, klingt das wohl wie reinster Zynismus. Sie sind überzeugt, dass der Reichtum der westlichen Länder auf der Armut und Ausplünderung anderer Länder beruht. Die Globalisierung sehen sie als Prozess der Ausbeutung der Schwächeren durch die Starken. Vehikel dieses Prozesses seien Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF), die seit den achtziger Jahren - teilweise Bauers Ansatz folgend - die Entwicklungsländer zum Aufbau marktwirtschaftlicher Institutionen zu verpflichten versuchen.
Dem kann man entgegensetzen, dass die Marktwirtschaft in vielen Ländern gefruchtet hat. Indien und China erleben heute einen spektakulären Aufschwung, nachdem sie in den internationalen Wettbewerb eingetreten sind und privates Unternehmertum fördern. Sie profitieren von der Globalisierung. Der Anteil der ärmsten Menschen auf der Welt, die von weniger als einem Dollar je Tag leben müssen, hat sich daher in den vergangenen drei Jahrzehnten von 39 auf 19 Prozent halbiert. Afrika dagegen stagniert nicht nur, sondern fällt weiter zurück. Der Anteil der Menschen mit nur einem Dollar je Tag stieg dort auf mehr als 30 Prozent.
Angesichts dieser dramatischen Entwicklung propagiert Jeffrey Sachs, einst als marktradikaler IWF-Reformer bekannt geworden, nun eine massive Erhöhung der Hilfen - einen "big push": Mit 75 Milliarden Dollar jährlich könne Afrika gerettet werden, wenn diese vor allem für Gesundheitsprojekte verwendet würden, meint Sachs. Sein Plan ist von der Linken begeistert aufgenommen worden. Die jüngere entwicklungspolitische Diskussion weist also ein klares Muster auf: Die liberalen Ökonomen vertrauen dem Markt und misstrauen staatlicher Intervention, linke Ökonomen rufen nach mehr Geld und Programmen. Eine interessante Mittelposition nimmt Paul Collier ein, der Direktor des Centre for the Study of African Economies an der Universität Oxford. In absehbarer Zeit werden fünf Sechstel der Menschen auf der Erde ein ausreichendes Einkommen haben, prophezeit Collier. Nur eine Milliarde, die "Bottom Billion", sei komplett von der Entwicklung abgehängt. Diese ärmste Milliarde lebe im subsaharischen Afrika und Zentralasien.
Insgesamt 58 Länder hat Collier identifiziert, die womöglich dauerhaft am Boden bleiben, obwohl einige erstaunliche Ressourcen besitzen, vor allem Erdöl, aber auch Gold oder Diamanten. Das nennt Collier die "Falle der natürlichen Ressourcen". Wie auch die Entwicklungshilfe sind Bodenschätze ein Geschenk, das Begehrlichkeiten weckt. Sie stacheln den politischen Wettbewerb von Interessengruppen an, das sogenannte "rent seeking". Wer die Macht im Staat erlangt, kann die Ressourcen an seine Klientel verteilen. Dieses Rentenstreben geht auf Kosten produktiver Tätigkeiten. Schlimmstenfalls führt es zu Bürgerkriegen.
Je reicher ein Staat an Bodenschätzen ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass seine politischen Institutionen degenerieren. Statt einen Ordnungsrahmen für marktwirtschaftlichen Wettbewerb und freies Unternehmertum zu garantieren, mutiert der Staat zur reinen Umverteilungs- und Bereicherungsmaschine für einzelne Gruppen. Die Erhebung von Steuern zur regulären Finanzierung des Staates wird unwichtig. Auch der Strom von Entwicklungsgeldern könnte ähnliche Folgen haben, wenn ihre Verwendung nicht streng kontrolliert wurde.
Neben der "Ressourcenfalle" hat Collier weitere Phänomene untersucht, die einen Aufstieg verhindern. Fatal sind wiederkehrende Bürgerkriege, die umso wahrscheinlicher seien, je ärmer und erfolgloser ein Land sei. Endemische Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit, "bad governance" genannt, sind weitere Ursache und zugleich Folge des niedrigen Entwicklungsstands. Wenig Chance auf wirtschaftlichen Aufschwung haben zudem jene Länder, die von chaotischen Nachbarn umgeben sind und keinen Zugang zum Meer haben.
Der Befund von Collier ist erschütternd. Seine Analyse der Ursachen überzeugt, ebenso sein Rat, den afrikanischen Ländern künftig eher durch eine liberale Handelspolitik denn durch mehr Geld entgegenzukommen, wie dies schon Bauer gefordert hat. Die Dritte Welt rettet man nicht durch einen undifferenzierten Geldregen; man muss ihr die Chance geben, sich selbst zu retten.
P. T. Bauer: Dissent on Development, Weidenfeld & Nicolson 1971.
Paul Collier: The Bottom Billion, Oxford University Press 2007.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.11.2007, Nr. 47 / Seite 36
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