Wie können wir allen eine faire Chance zum Aufstieg geben? Die Agenda 2010 fordert dazu mehr Flexibilität vom Bürgerund einen schlanken Staat. Doch das ist der falsche Weg, wie ein Blick ins Ausland zeigt / Von Gert G. Wagner
In einem Kommentar im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung wurde kürzlich festgestellt, dass nicht die wachsende ökonomische Ungleichheit ein Problem darstelle – sondern mangelnde Mobilität und damit mangelnde Flexibilität. Anlässlich des 5-Jahres-Jubiläums der „Agenda 2010“ sangen etliche Kommentatoren das Hohelied der Flexibilität: Nur sie könne weiteren wirtschaftlichen Aufschwung und vor allem mehr soziale Gerechtigkeit bringen.
Was ohne Zweifel stimmt: Eine moderne Gesellschaft sollte Gerechtigkeit nicht in erster Linie durch Almosen und soziale Dauersubventionen herzustellen versuchen. Zuerst sollte Teilhabegerechtigkeit kommen, und zwar durch Chancengleichheit bei der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. Nur wenn das im Einzelfall schiefgegangen ist, sollte durch finanzielle Transfers geholfen werden (dann aber auch menschenwürdig, was freilich einfacher gesagt ist als getan).
Die Kernfrage ist also, wie Chancengleichheit und soziale Mobilität in Deutschland verbessert werden können. Ein Blick ins Ausland zeigt: Unbeschränkte Flexibilität, wie wir sie besonders gut in den USA beobachten können, führt keineswegs zum Erfolg. Kaum eine moderne westliche Gesellschaft ist sozial so undurchlässig wie die US-amerikanische. Internationale Vergleiche zeigen, dass die „Vom Tellerwäscher zum Millionär“Ideologie dort nur für Einzelfälle gilt. Die skandinavischen Staaten sind viel bessere Beispiele, ja Vorbilder. Diese Staaten sind allerdings stark reguliert – und die Steuern sind hoch, weil der Staat gute öffentliche Leistungen bietet.
Die Mittelschicht in Deutschland ist in den letzten zehn Jahren deutlich geschrumpft, von 62 Prozent der Gesamtbevölkerung auf 54 Prozent. Die Zahlen des „Sozio-oekonomischen Panels“, einer Erhebung am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), zeigen dabei: Nicht der Anteil Gutverdienender ist drastisch gewachsen, es kam vielmehr zu einer Verfestigung von Armut und niedrigen Einkommen – und damit zu einem Abstieg der unteren Mittelschicht in dauerhaft prekäre Lebensverhältnisse.
Wie kann Chancengleichheit verbessert werden? Kurzfristig sicherlich durch das Fördern, das laut dem bekannten Hartz-IV-Schlagwort zum Fordern dazugehört. Erstaunlicherweise wird in der Agenda-Diskussion immer wieder vergessen, dass die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe eine ganz alte Forderung der Linken war. Und zwar genau deswegen, weil ein System aus einem Guss das Fördern von Langzeitarbeitslosen erleichtert. Es verhindert auch von vorneherein so weit wie möglich, dass Langzeitarbeitslosigkeit überhaupt entsteht (etwa durch gezielte Beratung von Menschen ohne jede allgemeine Berufsqualifikation). Die Linke hat sich freilich höhere Sozialtransfers vorgestellt. Über deren Höhe kann man allerdings nicht grundsätzlich streiten, sondern nur im Detail. Wenn das Fördern stimmt (und das tut es dank desUmbaus der Agentur für Arbeit zunehmend), dann ist ein Grundsatzstreit um die Höhe des ALG II unredlich. Vielmehr lohnt sich der Streit um die sonstige Gestaltung der chancenfördernden Politik.
Fordern und Fördern liefen in den ersten anderthalb Jahren der Agenda-Politik ziemlich ins Leere, weil die damalige Bundesregierung nichts tat, um den Aufschwung makroökonomisch zu unterstützen. Mit erstaunlicher wirtschaftspolitischer Naivität wurde zudem der Anstieg der Renten gebremst. Außerdem wurden mit der Riester-Rente Junge und Alte zum Sparen angehalten und damit insgesamt gründlich verunsichert. Die große Koalition hat dann eine vielgescholtene Reform-Pause eingelegt und damit den Aufschwung so gestützt, dass er nicht mal von der Mehrwertsteuererhöhung abgewürgt wurde. Damit können jetzt in der Tat erste Früchte der Agenda 2010 geerntet werden. Aber langfristig mehr Chancengleichheit ist damit beileibe noch nicht hergestellt. Und die Ausrichtung am angelsächsischen FlexibilitätsModell, welches bei der Agenda 2010 Pate stand, wird auch nicht zu mehr Chancengleichheit führen – sondern die Axt an den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland legen.
Ein Grund für die soziale Undurchlässigkeit in den USA ist das Schulsystem. Es wird so wenig reguliert und von der Regierung unterstützt (ist also sehr flexibel), dass nur vereinzelte staatliche und private Schulen gute Qualität bieten. Und wer nicht auf eine gute Schule ging, der hat – und sei er noch so schlau – keine Chance, auf eine gute Universität zu kommen, von den berühmten Elite-Universitäten ganz zu schweigen. Auch Großbritannien ist nicht besser. Deutschland liegt bislang im Mittelfeld der Aufstiegsmobilität (die übrigens natürlich auch bedeutet, dass weniger begabte und minder ehrgeizige Kinder aus gutsituierten Elternhäusern sozial absteigen müssen). Am durchlässigsten sind die skandinavischen Gesellschaften. Das zeigen raffinierte ökonomische Analysen ebenso wie das jüngst erschienene Buch „Eliten und Macht in Europa“ des Elite-Forschers Michael Hartmann.
Was macht Skandinavien sozial so durchlässig? ZumErsten gibt es keine Elite-Schulen und -Universitäten, in denen der Nachwuchs für Spitzenpositionen herangezogen wird. Das übelste Beispiel dafür ist Frankreich, wo fünf Grandes Ecoles nach wie vor den Nachwuchs kanalisieren. (Dazu sei angemerkt: Exzellente Forschungsuniversitäten, die es in den nordischen Ländern durchaus gibt, sind ganz etwas anderes als die höheren Fachschulen in Frankreich oder auch Spanien). Zum Zweiten werden in den skandinavischen Ländern hohe Steuern erhoben, um in der Ausbildung und der Weiterbildung gute Qualität zu bieten. Und im Falle von Arbeitslosigkeit stehen staatliche Unterstützungsprogramme bereit. Das Musterbeispiel ist Dänemark, wo es zwar kaum einen Kündigungsschutz gibt, dafür aber viel höheres Arbeitslosengeld als in Deutschland.
Zum Dritten – und das ist eine überraschende Einsicht, die Hartmanns Buch bietet – liegt es an der großen Bedeutung von Staats- und staatlich gelenkten Betrieben. Ihre Führungsetagen sind für soziale Aufsteiger viel offener als bei privatwirtschaftlichen Unternehmen, die ja noch überraschend oft in der Hand alter Familien sind.
Alles in allem: Nicht weniger, sondern mehr Staat, der klug organisiert ist, befördert Durchlässigkeit, Flexibilität und damit Teilhabegerechtigkeit.